Schon im Bus fiel mir die Frau auf, die ich auf mindestens 80 schätzte. Von der Schnellbahnstation Hernals aus quälte sich der Bus den Berg die steilen Straßen zum Heuberg hinauf. Gleich mehrere Leute hatten uns ein Lokal wegen des ungewöhnlich erscheinenden Besitzers schwer ans Herz gelegt: Er ist nämlich Inder und betreibt das traditionelle Schutzhaus auf dem Hausberg von Hernals. An diesem Nachmittag besuchten wir ihn das zweite Mal, das erste Mal waren wir an einem Freitagabend dort, um uns ein Bild zu machen. Nicht nur das Lokal gefiel uns, das Essen war lecker und auch mit ihm waren wir kurz ins Gespräch gekommen. Er bat uns, an einem anderen Tag wiederzukommen, an dem nicht so viel los ist: „Am besten am Nachmittag.“
Gesagt, getan. „Gibt es was zu essen“, fragen wir, nachdem wir uns als einzige Nachmittagsgäste im Lokal niedergelassen haben. „Natürlich, heute gibt´s Schwammerlgulasch“ antwortet er. Ob wir auch eine Suppe wollen: „Es gibt Grießnockerlsuppe.“ Während wir speisten, sah sich Bhashyam Sridharan indische Nachrichten an – und wir blickten fasziniert auf den Fernseher in der Hoffnung, anhand der Bilder etwas zu verstehen. In der letzten Meldung war ein Tiger und ein junger Mann zu sehen. „Trottelkinder“, schimpft Sridharan und macht sich auf dem Weg zu unserem Tisch. „Ein Student ist in den Käfig eingebrochen“, erklärt er, als er unsere fragenden Augen sieht – das Abenteuer sollte der junge Mann mit dem Leben bezahlen. Der Übergang wirkt fast wie aus einem Film geklaut und wir brauchen eine Weile, um zu kapieren, was er gesagt hat. Denn Sridharan spricht Wienerisch mit indischem Akzent. So sagt er denn auch „Kuchl“, wenn er von der Küche, um das offensichtlichste Beispiel aus unserem Gespräch zu nennen.
Nach Wien kam Sridharan nach einem Abstecher in der Schweiz. Dorthin war er von Madras in Südindien aus aufgebrochen, um eine Hotelfachschule zu besuchen. Dort bekam er auch den Namen Roger, mit dem ihn bis heute seine Stammgäste ansprechen, auch wenn sein richtiger Name so kompliziert gar nicht erscheint. „Ich hatte eine Lehrerin, die sich keine Namen merken konnten. Und ich war jung und voller Kraft, ich habe zum Beispiel Fässer über den Schultern getragen“, erzählt er. Die Lehrerin sei James Bond-Fan gewesen und als sie ihn so sah, sagte sie: „Du bist Roger!“ – und er sollte es bleiben. Da sein Visum für die Schweiz auslief, wanderte er nach Österreich weiterwanderte und fing im Schutzhaus am Heuberg als Kellner an.
Inzwischen nennt er die frühere Seniorchefin liebevoll „meine Mutter“, dass sie anfangs einige Konflikte auszutragen hatten, scheint die beiden noch enger zusammengeschweißt zu haben. Bis heute ist sie für ihn eine wertvolle Unterstützung, zumal sie nicht weit weg wohnt.
Auf der Speisekarte des Schutzhauses stehen typische Wiener Speisen, vom Schitzel über die gebackene Leber bis hin zum Paprikahenderl. Das wirklich Besondere ist die andere Seite der janusköpfigen Karte, denn diese ist der indischen Küche gewidmet. „Ich habe zwei Köchinnen, die eine macht die Wiener Küche, meine Frau kocht indisch“, erklärt er.
Sridharan ist in der Gegend gut verankert und hat viele Stammgäste. „Ich bin so etwas wie der Nahversorger“, sagt er lächelnd. „Wenn jemandem ein Ei ausgeht oder jemand noch gern ein Bier mit nach Hause nehmen möchte, kommen sie zu mir. Sie zahlen auch nichts, sondern ersetzen mir das einfach beim nächsten Mal.“ Mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen, die inzwischen erwachsen sind und in Großbritannien studieren, hat er in Hernals seine zweite Heimat gefunden: „Ich bin Hernalser seit 29 Jahren“, hält er fest und geradezu selbstverständlich zählt er die Namen der BezirksvorsteherInnen auf, die er miterlebt hat.
Zum Abschied begleitet uns „Roger“ noch vor die Türe des Lokal – und wir erleben mit, wie bekannt er in der Gegend tatsächlich ist: wer vorbeikommt, grüßt ihn freundlich, ob jung oder alt. Auf einmal treffen wir die Dame aus dem Bus wieder. Auch sie bleibt stehen, um eine Weile zu plaudern. Es stellt sich heraus, dass sie 91 Jahre ist und einen Garten in der Nähe hat, den sie von Döbling aus immer wieder besucht. Gerne lässt sie sich gemeinsam mit Roger fotografieren und erzählt so manchen Schwank aus ihrem Leben. „Ich freue mich sehr, dass er sich hier gut eingefunden hat“, vertraut sie uns später an, während sich der Bus wieder den Berg hinunter quält. Und wir freuen uns über diese wunderschönen Hernalser Momente.